Das Schicksal der Sophie M. (4)*
4. Kapitel
„Sophie. Schläfst du?“ Sophie schreckte hoch. Ihre Freundin Karin hatte sie geweckt. Da ist sie doch tatsächlich während der Geschichtsstunde weggedöst. „Ist alles okay? Warum gehst du nicht heim. Die Lehrerin wird das schon verstehen“, fragte Karin besorgt. „Nein, alles in Ordnung“, wehrte Sophie ab. „Hier, deine Arbeit. Ich habe sie erst abgepasst.“ „Danke. Was habe ich denn?“ „Tut mir leid, eine Sechs. Ich weiß, dass die Zeit jetzt schwer ist. Du hast immerhin deine drei besten Freunde verloren. (Man hatte Michael mittlerweile im Wald gefunden.) Aber das Leben geht weiter.“ „Ach, du weißt doch gar nicht, wie das ist.“ „Ja, da magst du Recht haben. Aber ich kann nicht mit ansehen, wie du dein Leben zerstörst. Du bist doch erst 15 Jahre alt. Wenn du nicht mit mir reden kannst, dann sprich doch mit deiner Freundin Heike über das, was passiert ist. Sie hat doch fast das Gleiche durchgemacht.“ Karin wollte ihrer Freundin wirklich helfen. Nur wie? „Mal sehen, vielleicht rede ich mit ihr.“ „Das ist gut. Und übrigens erkundigt sich Thomas immer wieder nach dir“, zwinkerte sie Sophie zu. Diese verdrehte nur genervt die Augen.
Am Abend bei Sophie zu Hause: Sie ist nicht allein. Thomas war bei ihr. Eng umschlungen sitzen die beiden da. Thomas versucht die ganze Zeit Sophie aufzumuntern. Irgendwann wird es ihr zu viel und sie schreit ihn an: „Sag mal, was fällt dir ein? Verschwinde! Ich möchte dich nicht mehr sehen, hörst du? Gehe endlich! Vergiss es, ich gehe doch nicht mit einem 14-Jährigen ins Bett. Hau ab!“ Thomas war völlig überrumpelt von dieser Reaktion und versuchte, sich zu entschuldigen. „Hey, tut mir leid. Okay?“ Sophie blieb jedoch verärgert. „Nein, ich will, dass du gehst. Ich möchte dich nicht mehr sehen. Ich dachte, du wärst ein Freund. Aber du nutzt meine Situation nur aus!“ „Schon gut. Ich werde gehen. Wenn du es wirklich willst, siehst du mich nie wieder. Trotzdem werde ich auf dich warten.“
Als Thomas gegangen ist, kommt Sophies Mutter in ihr Zimmer. „Warum hast du denn den armen Jungen so angeschrien?“, fragte sie ihre Tochter leicht gereizt. „Das verstehst du nicht.“ „Nein?“ „Nein!“ Sophie versuchte es zu erklären: „Mensch Mutti, er wollte doch nur mit mir ins Bett.“ „Erzähle doch nicht solche Märchen.“ Ihre Mutter wollte sie einfach nicht verstehen. In der kommenden Nacht, als Sophie weinend in ihrem Bett lag, fasste sie einen Entschluss. ‚Ich haue ab‘ und packte ein paar Sachen zusammen. Sie schrieb noch einen Brief an Heike, die mittlerweile ihre beste Freundin geworden war, und steckte diesen auch in ihren Rucksack. Kein einziges Wort schrieb sie jedoch an ihre Eltern. ‚Warum auch?‘, dachte sie. ‚Sie verstehen mich doch eh nicht.‘ Dann schlich sie sich aus der Wohnung, holte ihr Fahrrad aus dem Keller und fuhr los. Erst zu Heike, wo sie noch den Brief in den Briefkasten steckte und dann weiter Richtung Osten. Die ganze Nacht fuhr sie durch.
Als es wieder Tag wurde, hielt sie bei einer Volksbank und hob ihr gesamtes Erspartes ab. ‚Damit würde sie schon eine Weile über die Runden kommen‘, dachte sie. Auf jeden Fall wollte sie nie wieder zu ihrer Familie zurück. Sie vermisste sie keineswegs. Heike dafür umso mehr. Sie war es, die ihr über die schwere Zeit hinweggeholfen hatte. Ob sie sie je wiedersehen würde?
Eine Woche fuhr Sophie nun schon in der Gegend umher. Die Nächte verbrachte sie auf Parkbänken. „Aber“, überlegte sie laut „heute werde ich in einem Bett schlafen.“ Das nahm sie sich fest vor. Plötzlich fing es an zu regnen. Es wollte gar nicht mehr aufhören. Da beschloss sie, am nächsten Haus zu halten. „Ding-dong-dong-dong, ding-dong-dong-dong“, machte die Klingel, bis die Tür schwungvoll aufgerissen wurde. „Ja?“, hörte Sophie eine sympathische Stimme. „Mensch, du bist ja völlig durchnässt. Komme erstmal rein.“ Sophie trat also in das Haus. Erst jetzt hob sie ihren Kopf. Ihr strahlten die schönsten blauen Augen entgegen, die sie je gesehen hatte. Sie lachten sie an.
*Hinweis: Diese Geschichte habe ich vor kurzem beim Aufräumen wiedergefunden. Ich war gerade erst 14 Jahre alt, als ich sie geschrieben habe. Einige Vorkommnisse können daher etwas unlogisch bzw. unrealistisch sein. Ich selbst musste hin und wieder schmunzeln, als ich die Zeilen gelesen habe. Bevor sie ganz verloren gehen, stelle ich sie nun (inhaltlich) unbearbeitet in meinen Blog ein.
Damals gab es einige Todesfälle an unserer Schule, darunter auch zwei Selbstmorde. Darüber wurde natürlich viel geredet. Ich vermute, dass diese Ereignisse Einfluss auf meine Geschichten hatten.
Ich möchte trotzdem jedem dazu raten, sich Hilfe zu suchen und mit Experten über die eigenen Sorgen zu reden. Anlaufstelle kann beispielsweise die Telefonseelsorge sein. Tel.: 0800 / 1110111.